Die Emotion Scham verstehen

Die Komponenten der Scham

Chart - Die 7 Komponenten der Scham

In diesem Beitrag untersuchen wir die sieben Komponenten der Scham, ihre Auslöser, die Reaktion unseres Nervensystems und die Emotionen, die oft damit einhergehen. Wir untersuchen den Unterschied zwischen vorgestellter sozialer Bewertung (wie wir denken, dass andere uns sehen) und Selbstbewertung (wie wir uns selbst beurteilen) sowie die Verhaltensweisen, die Scham auslösen kann.

Sie werden Scham als komplexe Erfahrung, die unsere Selbstwahrnehmung und unsere Beziehungen prägen kann, besser verstehen.

Scham – Einführung und Definition

Scham ist ein zutiefst unangenehmes Gefühl, das viele von uns irgendwann im Leben erfahren haben. Auslöser können Handlungen, Gedanken, Situationen oder sogar unveränderliche persönliche Merkmale (wie körperliche Merkmale, sexuelle Identität) sein, die uns das Gefühl geben, gesellschaftlichen Erwartungen oder unseren eigenen moralischen Standards nicht gerecht zu werden.

Scham wird oft als negative Emotion erlebt. Wir fühlen uns verlegen, minderwertig, schlichtweg falsch oder nicht gut genug. Während leichte Scham (Verlegenheit) flüchtig sein kann, gibt es intensivere und länger anhaltende Formen. Scham kann unser Selbstbild und die Wahrnehmung anderer auf vielfältige Weise beeinflussen.

Scham wird oft als negative Erfahrung angesehen, hat aber verschiedene Komponenten und erfüllt wichtige soziale und psychologische Funktionen. Diese Komponenten beschreiben, wie Scham in uns entsteht, welches Verhalten sich daraus ergibt und wie uns die Emotion hilft, Beziehungen zu uns selbst und anderen zu gestalten.

Definition

Scham ist eine unangenehme Emotion, die mit einer hohen Selbstwahrnehmung, einer kritischen Selbsteinschätzung und einer autonomen Aktivierung des Nervensystems einhergeht.

Die Sieben Komponenten der Scham

Das Erleben von Scham kann anhand von sieben verschiedenen Komponenten analysiert werden, die das Umfeld, die Funktionen, die internen Prozesse und die daraus resultierenden Verhaltensweisen beschreiben:

  • Kontext, Auslöser und Reaktionen (Fakten) – Was war eigentlich los?
  • Funktion – Wie Scham uns hilft, unsere Beziehung zu uns selbst und anderen zu steuern
  • Vorgestellte soziale Beurteilung – Wie wir die Reaktion anderer erwarten
  • Selbstbewertung / Selbstverurteilung – Wie wir uns selbst beurteilen
  • Körperliche Reaktion – Wie unser Körper und unser Nervensystem reagiert
  • (Weitere) Emotionen – Weitere beteiligte Emotionen
  • Verhalten – Was wir als Reaktion auf die Scham tun.

Analyse der Scham – Die Sieben Komponenten im Detail

Die Hauptkomponenten gehen auf die Arbeiten von Paul Gilbert zurück. „Kontext, Auslöser und Reaktionen (Fakten)“ wurde hinzugefügt, um zu verdeutlichen, dass sich Scham auf reale oder vorgestellte Ereignisse in einem Beziehungskontext bezieht. „Funktion“ wurde hinzugefügt, um zu verdeutlichen, dass Scham eine Funktion bei der Steuerung von Kontakt und Beziehungsqualität hat.

Chart - Die 7 Komponenten der Scham im Detail

Kontext, Auslöser und Reaktionen (Fakten)

Die emotionale Reaktion Scham ist mit objektiven Fakten verbunden – Ereignissen in einem sozialen Umfeld.

  • Der Kontext bezieht sich auf den aktuellen/bestehenden Kontext – bestehende Beziehungen und deren Status und Qualität, den relativen sozialen Status sowie die Position innerhalb der sozialen oder organisatorischen Hierarchie.
  • Auslöser bezieht sich auf die realen Umstände, die die Emotion auslösen. Dazu gehört das tatsächlich Geschehene, wie beispielsweise das eigene Verhalten, die eigenen Handlungen oder Eigenschaften. Gab es einen tatsächlichen Fehltritt? Wurde etwas aufgedeckt? Bei schamempfindlichen Menschen kann dieser Auslöser relativ gering oder fast nicht vorhanden sein.
  • Die tatsächlichen Reaktionen anderer können die Intensität und Art der Scham, die der Einzelne empfindet, erheblich beeinflussen. Die emotionale Reaktion kann sich auf explizite (z. B. tatsächlich geäußerte Kritik, Beurteilung oder sogar Gleichgültigkeit) oder implizite Reaktionen anderer (z. B. beurteilende Blicke oder schweigende Behandlung) beziehen.

Bei der Betrachtung der Fakten ist zu beachten, dass das menschliche Gedächtnis nicht wie eine Videokamera funktioniert. Daher müssen wir zwischen den tatsächlichen Ereignissen (soweit sie objektiv und faktisch beschrieben werden können) und der subjektiven Wahrnehmung und Interpretation dieser Ereignisse durch den Einzelnen unterscheiden. Es muss außerdem zwischen der eigenen Beschreibung und Interpretation und der Beschreibung und Interpretation anderer unterschieden werden.

Kontext, Auslöser und Reaktionen (Fakten)
Scham erfordert in der Regel einen Auslöser. Daher ist es wichtig, zwischen tatsächlichen Ereignissen und der individuellen Wahrnehmung und Reaktion auf diese Ereignisse zu unterscheiden.

Leitfrage:
Was ist passiert? Was ist tatsächlich passiert?

Funktion der Scham

Scham spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie Menschen soziale Beziehungen gestalten und ihren Status innerhalb einer Gruppe wahren. Sie wirkt als regulierende Emotion und hilft Menschen, das Bedürfnis nach Würde und Autonomie mit dem Wunsch nach Kontakt und Zugehörigkeit in Einklang zu bringen. Scham kann als Signal wirken und Menschen auf das Risiko sozialer Ablehnung oder Missbilligung aufmerksam machen. Sie kann auch als Motivator für Verhaltensänderungen dienen und zu Handlungen ermutigen, die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen entsprechen.

Gleichzeitig prägt Scham die Beziehung zu sich selbst – sie beeinflusst Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl und Identität. In manchen Fällen kann Scham persönliches Wachstum fördern und zu Reflexion und Veränderung anregen. Ungelöste oder überwältigende Scham kann jedoch zu sozialem Rückzug, Selbstkritik oder anhaltenden Gefühlen der Wertlosigkeit führen.

Funktion der Scham
Scham fungiert als sozialer Regulator. Sie kann helfen, Beziehungen und soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, kann aber auch Barrieren für Bindung und Selbstakzeptanz schaffen.

Leitfrage:
Wie beeinflusst Scham Ihre Interaktionen mit anderen und Ihr Selbstwertgefühl?

Vorgestellte soziale Beurteilung

Scham hängt nicht nur mit den tatsächlichen Reaktionen und Urteilen anderer zusammen, sondern vielmehr mit den vorgestellten Reaktionen bzw. dem befürchteten zukünftigen Verhalten anderer.

Scham wird von unseren eigenen Annahmen, Ängsten und Projektionen darüber geprägt, wie andere uns beurteilen könnten. Wir haben Angst, in den Augen anderer zu versagen. Diese imaginären Bewertungen können genauso wirkungsvoll sein – wenn nicht sogar noch wirkungsvoller – als tatsächliches soziales Feedback. Diese Gedanken hängen mit der Angst vor sozialer Ablehnung oder Verurteilung zusammen. Wir haben Angst vor dem Urteil anderer, davor, von anderen negativ bewertet zu werden. Gilbert (2002) bezeichnet diese Komponente der Scham als die „soziale oder externe kognitive Komponente“.

Vorgestellte soziale Bewertung
Scham hängt mit der Überzeugung zusammen, dass andere unser Verhalten streng beurteilen oder uns als minderwertig oder wertlos ansehen könnten. Wir bemerken, dass wir den Erwartungen oder moralischen Werten anderer nicht gerecht werden.

Leitfrage:
Wie erwarten Sie, dass andere in der Situation auf Sie reagieren?

Selbstbewertung / Selbstverurteilung

Scham hängt mit unserer eigenen Reaktion auf uns selbst zusammen: Menschen bewerten sich selbst, wenn sie Scham empfinden.

Im Gegensatz zur vorgestellten sozialen Bewertung, bei der es um die Wahrnehmung durch andere geht, konzentriert sich dieser Aspekt der Scham auf die eigene Bewertung, die auf den eigenen Normen, Idealen und Werten beruht. Eine solche negative Selbstbeurteilung kann zu einem verminderten Selbstwertgefühl führen. Dazu gehört zum Beispiel eine harsche Selbstkritik, die einem das Gefühl gibt, zutiefst unzulänglich, inkompetent oder wertlos zu sein. Gilbert (2002) bezeichnet diese Komponente der Scham als die „interne selbstbewertende Komponente“.

Selbstbewertung / Selbstvorwürfe:
Scham hängt mit unserer Selbsteinschätzung zusammen. Wir bemerken, dass wir unseren eigenen Erwartungen und moralischen Werten nicht gerecht werden.

Leitfrage:
Wie bewerten Sie selbst Ihr Verhalten oder Ihre Eigenschaft?

Körperliche Reaktion

Die Emotion Scham beinhaltet eine neurophysiologische Reaktion des Körpers und des Nervensystems. Diese Reaktion spiegelt die Reaktion des Körpers und des Nervensystems wider, die je nach Intensität variieren kann.

  • In leichteren Fällen wird das sympathische Nervensystem aktiviert, was zu körperlichen Symptomen wie Erröten oder Schwitzen führt („rote Scham“).
  • Bei intensiverer Scham kann die parasympathische Reaktion die Oberhand gewinnen, was zu Symptomen wie Blässe oder sogar einem Gefühl des Zusammenbruchs führen kann („weiße Scham“)

Diese körperlichen Reaktionen sind die Art und Weise, wie der Körper auf den akuten Stress reagiert, der mit Scham einhergeht. Gilbert (2002) bezeichnet diese Komponente der Scham als „physiologische Komponente“.

Reaktion des Nervensystems:
Scham beinhaltet eine physiologische Reaktion – unser Nervensystem wird aktiviert (Erröten, Hitzegefühl) oder schaltet sich sogar ab (Blässe, Kollaps).

Leitfrage:
Wie reagiert Ihr Körper, wenn Sie an die Situation denken?

(Weitere) Emotionen

Scham ist ein komplexes Gefühl, das von einer Reihe anderer Emotionen begleitet oder gefolgt werden kann. Da Scham so eng mit der Selbstwahrnehmung und der sozialen Identität verbunden ist, ist das Verständnis ihrer zusätzlichen emotionalen Strukturen entscheidend.

Diese anderen Emotionen können in Anbetracht der jeweiligen Situation neben der Scham auftreten. Sie können auch Versuche sein, die Scham zu bewältigen oder für andere akzeptablere Gefühle auszudrücken. Zu diesen zusätzlichen Emotionen können Angst, Wut, Traurigkeit, Schuldgefühle, Selbstekel und vieles mehr gehören, die die Scham manchmal erheblich verstärken. Die Kombination von Emotionen hängt von der Situation und der erwarteten internen Bewertung oder sozialen Beurteilung ab. Gilbert (2002) bezeichnet diese Komponente der Scham als die „physiologische Komponente“.

Nachfolgend finden Sie Beispiele für weitere emotionale Komponenten von Scham:

  • Angst vor Bloßstellung
    Eine wichtige Komponente von Scham ist die Angst, bloßgestellt, verurteilt oder gedemütigt zu werden. Diese Angst fördert Vermeidungsverhalten und übermäßige Wachsamkeit gegenüber sozialer Bewertung.
  • Wut und Groll
    Scham kann Wut auslösen – entweder gegen sich selbst gerichtet, um sich selbst zu bestrafen, oder nach außen gerichtet gegenüber Personen, die als Quelle von Verurteilung oder Ablehnung wahrgenommen werden. Dies kann zu Selbstkritik und zwischenmenschlichen Konflikten führen.
  • Selbstbezogener Ekel und Verachtung
    Scham äußert sich oft in Selbstabneigung und führt zu Selbstekel und Selbstablehnung. Betroffene empfinden sich möglicherweise als grundsätzlich fehlerhaft oder wertlos.
  • Innere Niedergeschlagenheit und Niedergeschlagenheit
    Ein Gefühl der Minderung ist zentral für Scham und führt zu Gefühlen der Wertlosigkeit, Rückzug und depressiven Zuständen.
  • Schuldgefühle
    Scham und Schuldgefühle hängen oft zusammen. Schuldgefühle konzentrieren sich jedoch eher auf bestimmte Handlungen („Ich habe etwas Schlimmes getan“), während Schamgefühle das ganze Selbst betreffen („Ich bin schlecht“). Schuldgefühle können zu Wiedergutmachungshandlungen führen, während Scham zu Vermeidung und Rückzug führen kann. Ungelöste Schuldgefühle können zu chronischer Scham führen und das Gefühl der Wertlosigkeit vergrößern.
  • Scham über andere Emotionen
    Scham kann eine emotionale Reaktion auf andere Emotionen sein, z. B. Scham über den eigenen Wutausbruch oder darüber, sich verletzlich und traurig zu zeigen. Man kann sich sogar für die Scham selbst schämen (z. B. für das Erröten). Dadurch entsteht eine sich selbst verstärkende Rückkopplungsschleife, die die Scham verstärken kann.

(Zusätzliche) Emotionen:
Scham kann von anderen Emotionen begleitet oder beeinflusst sein. Andere Emotionen können uns auch helfen, mit der Emotion Scham umzugehen oder sie zu vermeiden.

Leitfrage:
Sind (weitere) Emotionen beteiligt?

Verhalten

Scham verursacht und motiviert Verhaltensweisen. Solche Verhaltensweisen sind oft defensiver/beschwichtigender Natur, es kann aber auch ausdrucksstärkeres Verhalten geben. Diese Verhaltensweisen sind oft automatisch und basieren auf einem tiefen Instinkt, uns vor Verurteilung oder Peinlichkeit zu schützen. Gilbert (2002) bezeichnet diese Komponente der Scham als „Verhaltenskomponente“.

  • Wenn wir Scham empfinden, besteht unsere natürliche Abwehrreaktion oft darin, uns zu verstecken, Aufmerksamkeit zu vermeiden oder uns aus der Situation zu entfernen – d. h. vor der Situation wegzulaufen – was mit der Fluchtreaktion zusammenhängt. Eine subtilere Form dieses Verhaltens ist das Herabschauen, das Vermeiden von Augenkontakt, das Vermeiden von Kontakt oder das Nichterscheinen bei Kontakt.
  • Zusätzlich können wir uns unterordnen, entschuldigen und andere beschwichtigende oder unterwürfige Verhaltensweisen zeigen (ähnlich der Unterwürfigkeitsreaktion).
  • Manchmal kann Scham, anstatt sich zu verstecken, Ärger auslösen (ähnlich der Kampfreaktion). Wenn uns jemand das Gefühl gibt, klein, schwach oder schlecht zu sein, verspüren wir möglicherweise den Drang, uns zu wehren oder Rache zu nehmen. Diese Reaktion kann entweder unterdrückt (in uns behalten) oder nach außen getragen werden. Im Wesentlichen verlagert Wut den Fokus von unserem eigenen Schamgefühl auf die Schuldzuweisung an andere, die uns beschämt oder unangemessene Verhaltenserwartungen geweckt haben.
  • Als weitere Reaktion auf Scham können wir es trotzdem tun. Dazu gehört auch die gesunde, konstruktive Form der Selbstbehauptung. Wir behaupten uns angesichts von Kritik und tun etwas trotz äußerer Kritik oder innerer Regeln, weil wir wissen, dass es richtig ist. Scham kann aber auch weniger gesunde Formen annehmen, bei denen wir – vielleicht aus Trotz – das Verhalten fortsetzen oder sogar noch verstärken und uns so schamlos verhalten, was uns selbst und/oder anderen grundsätzlich schadet.

Verhalten:
Scham kann zu Verhaltensreaktionen führen, um die Situation zu entschärfen, wie z. B. sich zu verstecken oder andere zu beschwichtigen. Es kann zu Selbstbehauptung und sogar zu boshaftem, wütendem oder schamlosem Verhalten führen.

Leitfrage:
Wie verhalten Sie sich anderen gegenüber, wenn Sie Scham empfinden?

Weiterführende Literatur